Indexeffekt - Wie ein technischer Vorgang plötzlich Kursreaktionen auslöst
- Severin Kym
- 11. Apr.
- 7 Min. Lesezeit
In der Welt der Kapitalmärkte gibt es zahlreiche Phänomene, die sich nicht direkt durch Unternehmenskennzahlen oder makroökonomische Daten erklären lassen. Eines davon ist der sogenannte Indexeffekt. Gemeint ist damit die Beobachtung, dass Aktien, die in bedeutende Börsenindizes wie zum Beispiel den amerikanischen Aktienindex S&P 500 aufgenommen werden, überdurchschnittlich stark im Preis steigen. Umgekehrt verlieren aus dem Index entfernte Titel oft deutlich an Wert. Dieses Phänomen scheint auf den ersten Blick nur schwer mit der Vorstellung effizienter Märkte vereinbar zu sein.
Doch was genau verbirgt sich hinter dem Indexeffekt, wie wurde er erstmals entdeckt, und wie hat sich dieses Marktverhalten über die Jahre entwickelt?
Der Indexrevisionsprozess
Um das Prinzip des Indexeffekts zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Funktionsweise von Indexrevisionen. Diese legen fest, welche Aktien neu in einen Index aufgenommen werden und welche entfernt werden. Der konkrete Prozess unterscheidet sich je nach Index, folgt jedoch einem ähnlichen Schema mit zwei zentralen Eckdaten: dem Ankündigungsdatum und dem Wirksamkeitsdatum.
Am Ankündigungsdatum geben die Indexbetreiber bekannt, welche Aktien neu in den Index aufgenommen und welche entfernt werden. Das Wirksamkeitsdatum, meist mehrere Tage später, markiert den Zeitpunkt, an welchem die Änderungen tatsächlich umgesetzt werden. Für den Indexeffekt ist vor allem der Zeitraum zwischen diesen beiden Daten entscheidend, da in dieser Phase typische Kursreaktionen auftreten.
Das Grundprinzip des Indexeffekts
Der Indexeffekt beschreibt die systematische Kursreaktion von Aktien rund um ihre Aufnahme oder Entfernung aus einem bedeutenden Aktienindex. Dabei lässt sich der Effekt nicht auf einen einzelnen Einflussfaktor reduzieren. Studien zeigen, dass Indexrevisionen eine Vielzahl von Variablen beeinflussen, darunter Liquidität, Profitabilität, Handelsvolumen, Preiseffizienz und Risikowahrnehmung. Im Zentrum steht jedoch der Preiseffekt.
Der Indexeffekt zeigt sich darin, dass Aktien, die in einen Index aufgenommen werden, ab dem Ankündigungsdatum bis zum Wirksamkeitsdatum positive Renditen erzielen. Da diese Renditen höher ausfallen als jene des Index, dem die Aktie hinzugefügt wurde, spricht man von statistisch signifikanten positiven abnormalen Renditen. Ein Beispiel hierfür ist die Aufnahme von Amazon in den S&P 500. Die Ankündigung erfolgte am 15. November 2005, das Wirksamkeitsdatum war nur wenige Tage später, am 21. November. Zwischen diesen beiden Daten erzielte Amazon eine Rendite von knapp 8%, während der S&P 500 im gleichen Zeitraum lediglich rund 2% gewann. Somit verzeichnete Amazon eine positiv abnormale Rendite von etwa 6%, die nicht durch fundamentale Veränderungen erklärt werden konnte.
Umgekehrt verzeichnen Aktien, die aus einem Index entfernt werden, im selben Zeitraum tendenziell signifikant negative abnormale Renditen. Diese Kursbewegungen erfolgen ohne neue fundamentale Informationen über die betroffenen Unternehmen, was aus Sicht der Theorie effizienter Märkte eine interessante Herausforderung darstellt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Indexeffekt die durch Indexänderungen entstehenden statistisch signifikanten abnormalen Renditen beschreibt.
Die Entdeckung des Indexeffekts
Die erste systematische Untersuchung des Indexeffekts geht auf die 1980er-Jahre zurück. Im Zentrum standen damals die Reaktionen auf Veränderungen im amerikanischen Leitindex S&P 500. Die ersten Studien analysierten Kursreaktionen rund um die Aufnahme von Aktien in den Index und stellten fest, dass die betroffenen Titel Überschussrenditen von bis zu 3% erzielten, ohne dass es fundamentale Neuigkeiten zum Unternehmen gegeben hätte. Bei Überschussrenditen, ein Synonym für abnormale Renditen, handelt es sich um die Rendite der Aktie minus der Rendite des Aktienindex.
Diese Beobachtung stellte die Effizienzmarkthypothese (EMH), wie sie von Eugene Fama formuliert wurde, auf die Probe. Die EMH besagt, dass alle öffentlich verfügbaren Informationen sofort und vollständig in die Aktienkurse eingepreist werden, sobald sie bekannt werden. Daraus folgt, dass es keine systematischen Kursbewegungen ohne neue Informationen geben dürfte. Da Indexänderungen rein technischer Natur sind und keine neuen Informationen über die Qualität oder Zukunftsaussichten eines Unternehmens enthalten, wurden die festgestellten Preisreaktionen zunächst als Anomalie gewertet.
Diese frühen Studien wurden zum Ausgangspunkt einer ganzen Forschungswelle. Bereits wenige Jahre später folgten weitere Studien und erkannten, dass es auch bei Entfernungen aus dem Index zu statistisch signifikant negativen Renditen kam, ein Hinweis darauf, dass nicht nur Käufe durch Indexfonds, sondern auch deren Verkäufe eine Marktreaktion auslösen.
Diese Beobachtungen warfen die Frage auf, warum rein technische Indexänderungen überhaupt solche Kursreaktionen auslösen konnten. Um dieses Phänomen zu erklären, entwickelten Forschende verschiedene Hypothesen, die sich grob in zwei Richtungen einteilen lassen.
Erklärungsansätze: Nachfrage versus Information
Grundsätzlich gibt es zwei konkurrierende Erklärungsansätze, welche den Indexeffekt zu erklären versuchen: die nachfragebasierten und die informationsbasierten Hypothesen.
Ansätze, die die Nachfrage als zentrale Ursache betrachten, führen die beobachteten Preisreaktionen auf den Kauf- oder Verkaufsdruck zurück, der durch Indexfonds und ETFs entsteht. Diese Fonds sind gezwungen, ihre Portfolios entsprechend der neuen Indexzusammensetzung anzupassen, was zu einem sprunghaften Anstieg oder Rückgang der Nachfrage nach den betroffenen Aktien führt. Im Zentrum dieser Argumentation steht die Annahme, dass Indexänderungen keine neuen Informationen über die fundamentale Qualität eines Unternehmens liefern. Da die Auswahlkriterien rein formal oder strukturell sind, widerspricht ein Preisanstieg nach der Indexaufnahme der Effizienzmarkthypothese.
Informationsbasierte Hypothesen vertreten hingegen einen anderen Standpunkt. Sie gehen davon aus, dass Indexänderungen durchaus eine Signalfunktion für den Markt haben. Eine Aufnahme in einen bedeutenden Index wird als positives Zeichen für die Qualität und Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens gewertet. Dafür werden vor allem zwei Argumente verwendet: Erstens streben viele Indizes, wie etwa der S&P 500, eine gewisse Stabilität in ihrer Zusammensetzung an. Es liegt daher nahe, dass Unternehmen mit langfristigem Potenzial in der Aufnahme bevorzugt werden, auch wenn dies nicht offiziell als Auswahlkriterium gilt. Zweitens stellt eine Indexaufnahme gewissermassen eine externe Bestätigung dar, sie macht ein Unternehmen sichtbarer, liquider und in gewissem Sinne zu einem „führenden Vertreter“ seiner Branche.
Bis heute herrscht in der Forschung keine Einigkeit darüber, welcher dieser beiden Ansätze die umfassendere Erklärung liefert. Vieles deutet darauf hin, dass der Indexeffekt das Ergebnis mehrerer zusammenwirkender Mechanismen ist, in denen sowohl Nachfrageveränderungen als auch Informationssignale eine Rolle spielen.
Wie sich der Indexeffekt über die Jahre verändert hat
In den 1990er- und frühen 2000er-Jahren erreichte der Indexeffekt seinen Höhepunkt. Studien zum S&P 500 dokumentierten in dieser Zeit abnormale Renditen von 8% bis 10% für neu aufgenommene Aktien zwischen Ankündigungs- und Wirksamkeitsdatum. Auch aus dem Index entfernte Aktien verzeichneten im selben Zeitraum signifikante Kursverluste. Diese Preisreaktionen waren stärker als je zuvor und widerspiegelten den rapiden Bedeutungszuwachs passiver Anlagestrategien.
Doch ab Mitte der 2000er-Jahre begann der Indexeffekt zu verblassen. In den folgenden Jahren wurden die Preisreaktionen zunehmend schwächer, bis sie schliesslich in den 2010er-Jahre nicht mehr statistisch signifikant waren. Der klassische Indexeffekt galt damit als weitgehend verschwunden.
Die Gründe für das Verschwinden des Indexeffekt
Nach dem Rückgang des Indexeffekts stellte sich die Frage, weshalb dieses Phänomen verschwand. In der Literatur herrscht weitgehend Einigkeit, und mehrere Studien identifizieren drei Hauptgründe:
- Erhöhte Vorhersehbarkeit von Indexänderungen
- Indexmigrationen
- Gestiegene Marktliquidität
Aufgrund der abnormalen Renditen, die sich durch den Indexeffekt erzielen liessen, begannen Investmentfirmen und Hedgefonds, erhebliche Mittel einzusetzen, um von diesen scheinbar „kostenlosen“ Renditen zu profitieren. Da die höchsten Renditen erzielt wurden, wenn man möglichst früh, idealerweise vor der offiziellen Ankündigung, handelte, investierten diese Akteure viel Kapital in die möglichst präzise Vorhersage künftiger Indexanpassungen. Mehrere Studien zeigen, dass der Indexeffekt mit zunehmender Vorhersehbarkeit deutlich abnimmt.
Ein weiterer zentraler Faktor sind sogenannte Indexmigrationen. Wird eine Aktie beispielsweise neu in den S&P 500 aufgenommen, war sie zuvor oft bereits Bestandteil eines kleineren Index, wie dem S&P MidCap 400. Mit dem Wechsel in den grösseren Index muss sie aus dem kleineren entfernt werden. Dadurch entstehen gegenläufige Handelsaktivitäten: Während Fonds, die den S&P 500 abbilden, die Aktie kaufen, verkaufen Fonds des kleineren Index die gleiche Aktie. Ein Teil des Nachfrageeffekts wird somit neutralisiert. Da in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung von kleineren Indizes mit geringerem Marktgewicht deutlich gestiegen ist, hat sich dieser ausgleichende Effekt verstärkt. Der resultierende Angebots- und Nachfragedruck reduzierte sich, wodurch sich der Preiseffekt abschwächte.
Als dritter und vermutlich wichtigster Grund gilt die gestiegene Marktliquidität. Mit der Weiterentwicklung der Finanzmärkte sanken die Handelskosten erheblich. Dadurch wurde es günstiger, grössere Volumina zu handeln ohne den Aktienkurs stark zu beeinflussen. Zudem begannen Indexfonds enger mit Investmentfirmen zusammenzuarbeiten. Diese setzten spezialisierte Handelsteams ein, die Käufe und Verkäufe über mehrere Tage streuten. Dieses Verhalten wurde in mehreren Studien dokumentiert: Der Handelsdruck konzentrierte sich nicht mehr auf hauptsächlich auf den Tag unmittelbar vor der Indexumsetzung, sondern verteilte sich über eine längere Zeitspanne. In der Folge verringerte sich der Angebots- und Nachfragedruck deutlich, wodurch der Preiseffekt zunehmend verschwand.
Fazit
Der Indexeffekt galt lange Zeit als eine der bekanntesten Anomalien gegenüber der Effizienzmarkthypothese. Doch wie viele andere Preiseffekte zuvor, scheint auch er mit der Zeit an Kraft verloren zu haben. Die zunehmende Aufmerksamkeit der Forschung, die wachsende Bedeutung passiver Strategien und die vorgenommenen Anpassungen der Indexfonds haben dazu geführt, dass der Indexeffekt weitgehend verschwunden ist. Damit wird einmal mehr sichtbar, wie dynamisch Märkte auf wiederholbare Muster reagieren und wie sich solche Anomalien im Sinne der Effizienzmarkttheorie über die Zeit selbst korrigieren. In gewisser Weise wurde der Indexeffekt zum Opfer seiner eigenen Popularität.
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